Der Mann, der Angst vor Pferden hatte Heike Wünsch
Es war einmal ...
... eine junge Frau, deren Leidenschaft Pferde waren. Leider hatte sie einen Lebensgefährten, der aufgrund eines traumatischen Kindheitserlebnisses Angst vor Pferden hatte. Sie kennen die typischen traumatischen Kindheitserlebnisse mit Pferden, denen unsere Mitmenschen männlichen Geschlechts schon im zarten Mannesalter ausgesetzt werden? Nein? So will ich es kurz erläutern. Man unterscheidet im allgemeinen drei Fälle, die in sich leicht variieren können:
1. Das männliche Kind hatte Kontakt zu dem Pony eines Nachbarn. Dieses ist ihm (meist mit bösartiger Absicht) auf den Fuß getreten oder hat mit dem Huf ein beliebiges Körperteil des männlichen Kindes berührt.
2. Das männliche Kind hatte Kontakt zu dem Pony eines Nachbarn. Dieses hat ihn (in eindeutig bösartiger Absicht) gebissen.
3. Das männliche Kind hatte Kontakt zu dem Pony eines Nachbarn. Dieses hat ihn
(natürlich mit bösartiger Absicht) beim Reiten abgeworfen. In einigen Variationen ist das Pony vorher durchgegangen.
Ohne daraus irgendwelche Schlüsse auf den Mut unserer männlichen Mitmenschen
ziehen zu wollen, hinterläßt ein solches Kindheitserlebnis bei einem großen Teil von ihnen eine lebenslange Angst (manche sagen lieber: Respekt) vor Pferden jeglicher Art. Dies äußert sich in einem erheblichen Sicherheitsabstand (100 Meter ohne Zaun, 20 Meter mit Zaun), den diese Männer zwischen sich und den Pferden aufrechterhalten. Nun, das traumatische Kindheitserlebnis des hier angesprochenen Lebensgefährten (nennen wir ihn Philipp, aus dem Griechischen = der Pferdefreund) läßt sich in die Kategorie drei einordnen, erschwerend kommt hinzu, daß das Ereignis erst im Teenageralter eingetreten ist.
Die junge Dame (wir nennen sie Irene, was auch immer dieser Name bedeuten mag) hatte sich nun unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in das Leben von Philipp eingeschlichen, in der Zeit nämlich, in der sie sich kennenlernten, hatte sie aus Zeitgründen während des Studiums keinen Kontakt zu Pferden. Sie ließ ihren zukünftigen Lebensgefährten zwar nicht im unklaren über ihr zweifelhaftes Vorleben, dieser sah jedoch in seiner Unwissenheit großzügig darüber hinweg.
So kam es, daß Irene eines Tages, nachdem die Erinnerungen von Philipp an ihre merkwürdige Vergangenheit schon fast verblaßt waren, ihrem Lebensgefährten mitteilte, daß sie beabsichtige, eine Reitbeteiligung anzunehmen. Nach anfänglicher Überraschung gab sich Philipp großzügig und erlaubte ihr gönnerhaft ihre neue
Freizeitbeschäftigung. Fortan verbrachte Irene zwei Abende und einen Nachmittag in der Woche bei ihrem Pflegepferd. Philipp beobachtete dies (natürlich aus der schützenden Ferne) mit zunehmender Eifersucht, und so befand er es für günstig, als es sich ergab, daß Irene ihre Reitbeteiligung aufgeben mußte, da ihre Arbeit sie in eine weit entfernte Region verschlug. Eine dunkle Zeit brach für sie an, in der sie sehnsuchtsvoll die Pferde auf den Weiden, an denen sie vorüber fuhr, anstarrte.
Nun begab es sich aber, daß die leibliche Schwester des Lebensgefährten ein Pferd hatte, welches sich zunehmend aufmüpfig gebärdete. So bat sie Irene um Unterstützung, welche diese mit Freuden gewährte. Dieses aber war ein Dorn im Auge ihres Lebensgefährten, welcher um seine Vormachtstellung im Leben seiner jungen Freundin bangte. So versuchte er, sie mit listigen Argumenten von dem Unsinn ihrer Beschäftigung mit anderer Leut's schwierigen Pferden zu überzeugen. Irenes Überraschung war groß, als Philipp in seiner überschwenglichen Argumentationsfreude äußerte, er würde jedes Verständnis für ihren zeitlich Einsatz für Pferde aufbringen, wenn es sich um ihr eigenes Pferd handeln würde, und zwar ihr Traumpferd, welches seines Wissens ein Vollblut sein müßte. Nun, dem konnte sie kaum widersprechen, bei all ihrer Begeisterung für Pferde war ein Arabisches Vollblut doch das größte Ziel ihrer Wünsche.
Jedoch - ihre Arbeit ließ eine solch zeitaufwendige Anschaffung gar nicht zu, bedeutete es doch eine große Verantwortung, sich ein solches Tier zu halten. Dies teilte sie auch ihrem Lebensgefährten mit: ein eigenes Pferd würde erheblich mehr ihrer Zeit in Anspruch nehmen als ein Pflegepferd. Dieser, wohl wissend, daß sie genau aus diesem Grunde kein Pferd kaufen würde, erläuterte großherzig, daß er im Falle dessen, daß sie sich einen Traum erfülle, eine gewisse Vernachlässigung seiner Person hinnehmen würde. Irene ließ sich diese Aussage mehrmals bestätigen, war sich jedoch im klaren darüber, daß sie sich diese Freiheit doch nicht nehmen würde.
Nun war es aber so, daß Irene aus ihrer Zeit als Reitbeteiligung den Besitzer des kleinen Privatstalles, in dem das Pferd ihrer Schwägerin seit neuestem lebte, recht gut kannte. Und dieser bot ihr an, sich im Falle eines Pferdekaufs verantwortungsvoll um dieses Tier zu kümmern, wenn Irene im Dienste ihrer Arbeit nicht abkömmlich war. Des weiteren erklärte sich auch besagte Schwägerin dazu bereit, zu Zeiten helfend zur Seite zu stehen.
So den Weg zu einem eigenen Pferd in gewisser Weise geebnet, denn an finanziellen Mitteln mangelte es Irene nicht, machte sich ein gewisses Kribbeln in ihrem Magen breit, welches sie dazu verleitete, sich nicht nur eine, sondern sogar gleich zwei Zeitschriften zu besorgen, in denen speziell Pferde zum Verkauf angeboten wurden. Da die Zeitschriften überregional waren und die Inserate nicht sortiert, beschäftigte sie sich zwei Abende mit den Anzeigen, bis sie vier davon auswählte, welche zum einen Araber anboten und zum anderen eine Telefonnummer angaben, die zu einer Region gehörte, die im Umkreis von etwa zweihundert Kilometern zu ihrem Wohnort lag. Bei einer war sie sich nicht sicher, da diese Nummer zu einem mobilen Anschluß (eine zu dieser Zeit weit verbreitete "D-Netz"-Nummer) gehörte, dessen Region sich natürlich nicht zuordnen ließ. Die Ausbeute war erschreckend gering, hatte sie doch die Auswahl unter hunderten von Anzeigen gehabt.Wie es der Zufall so wollte, war ausgerechnet das Angebot mit der "D-Netz"- Nummer für sie am nächsten, nämlich nur hundert Kilometer entfernt in einer schönen Berglandschaft.
Sie plante, an ihrem nächsten freien Tag dort vorbeizufahren, um sich das Pferd anzusehen. Um irgendwelchen Protesten seitens ihres Lebensgefährten vorzugreifen erwähnte sie im Gespräch mit ihm beiläufig, daß sie einen Vormittag für dieses Unternehmen nutzen würde. Zu ihrer Überraschung zeigte sich Philipp begeistert von der Vorstellung, mit ihr in seinem geliebten Cabrio einen Ausflug in die Berglandschaft zu machen, zumal die Wettervorhersage Sonnenschein versprach. Da Irene es vorzog, sich von ihrer Schwägerin begleiten zu lassen, versuchte sie ihn abzuschrecken, indem sie ihn darauf aufmerksam machte, daß es schon ein Stündchen dauern könnte, um sich das Pferd anzusehen. Er ließ sich in keiner Weise abschrecken, und so kam es, daß sie gemeinsam loszogen, um das Pferd zu besichtigen. Das heißt, er, um sein Cabrio spazieren zu fahren, und sie, um den Araber zu sehen.
Die Besichtigung verlief somit recht einseitig. Während Irene sich den vierjährigen Hengst ansah und Proberitt, saß Philipp in seinem Cabrio, in welchem er sich in Sicherheit wähnte. Auf Irenes Frage, ob ihm das Pferd gefalle, rief er aus seiner Deckung hervor "Ja, aber es hat eine dreckige Farbe!" und zog sich wieder hinter die schützende Windschutzscheibe zurück. So beschloß Irene, das dreckige Pferd (es war ein Rappschimmel) zu kaufen. Philipps Geduld war inzwischen weitestgehend erschöpft, so daß sie keine Zeit hatte, ihren Entschluß großartig zu überdenken, also schlug sie ein. Einzige Voraussetzung war, daß aus dem Hengst ein Wallach wurde, bevor er zu ihr kam. Dies implizierte natürlich eine zweiwöchige Wartezeit, bis er gebracht werden konnte, denn aufgrund des vermutlich unangenehmen Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit des Tieres mußte ihm eine gewisse Zeit der Rekonvaleszenz zugestanden werden. Während das Tier seinen Verlust mit Appetitlosigkeit zum Ausdruck brachte, zeigte sich das selbe Verhalten bei Irene als Zeichen ihres Gewinns.
So sahen sich die beiden um einige Pfunde erleichtert nach vierzehn Tagen in seinem neuen Stall wieder. Zuvor hatte Philipp sie noch damit überrascht, daß er stolz als Lebensgefährte einer zukünftigen Pferdebesitzerin im Stall auftrat, als sie dort über ihre neueste Anschaffung Bericht erstattete. Er schwärmte in höchsten Tönen von dem schönen Pferd, welches er nur aus der Ferne gesehen hatte und dessen einziger Makel die dreckige Farbe sei. Die Neuigkeiten verbreiteten sich rasch in der kleinen Pferdegemeinschaft der Region, und so kam es, daß am Tage der Ankunft ein erkleckliches Völkchen am Stall versammelt war. "Shar Lih", noch unfähig, den Verlust seiner Männlichkeit zur Kenntnis zu nehmen, dankte dies mit einer temperamentvollen Vorführung seiner edlen Abstammung und einem zwölfstündigen Angriff auf die Nerven seiner neuen Besitzerin.
Elektrozäune akzeptierte er nicht als Grenze zwischen sich und den alteingesessenen Wallachen nebenan, die seine aggressive Zudringlichkeit nur mit Neugierde erwiderten. So war es an Irene, den Tag als Wächterin der Zäune zu verbringen, um Shar Lihs Betreten des Niemandslandes zwischen den Weiden zu verhindern. Des nachts kam er in den Stall, um ihr eine Pause zu ermöglichen. Nachdem er einige Zeit vergeblich in seiner Box randalierte, um seinem neuen Nachbarn seine Wichtigkeit zu demonstrieren, kehrte endlich Ruhe ein.
Tags darauf mußte der Zaun verstärkt werden, denn noch einen ganzen Tag - nur fürs Pferd - gestand Philipp seiner Lebensgefährtin nicht mehr zu. Und wieder geschahen Zeichen und Wunder: mit ungeahntem Interesse kümmerte Philipp sich um die fachgerechte und sichere Einzäunung des unruhestiftenden Ex-Hengstes. Und - der Wunder geschahen noch mehr: des Abends, beim Putzen des Pferdes, brachte Philipp den Mut auf, sich dem Tier so weit zu nähern, daß es mit der Spitze seines Maules eine von ihm hingehaltene Möhre erreichen konnte. Dies erheiterte Philipp so sehr, daß er Shar Lih fortan regelrecht mit Möhren zustopfte. Die zu Boden fallenden Stücke wagte er jedoch nicht aufzuheben, hier mußte Irene ihr Leben riskieren.In der folgenden Zeit kam es vor, daß Philipp an Tagen, an denen Irene durch ihre Arbeit daran gehindert war, Shar Lih zu besuchen, am Stall vorbeifuhr und, laut eigener Aussage, das Pferd sogar am Hals berührte.
Während einer vormittäglichen Feierlichkeit am Stall wurde ein gewisses Maß an Alkohol verkonsumiert, was nach Irenes Meinung der einzige Grund für die folgenden Geschehnisse sein konnte: sie holte Shar Lih von der Wiese und drückte Philipp die Führleine nebst Pferd in die Hand. Dieser, gebildet durch übermäßigen Fernsehkonsum, ruckte ein paar mal kräftig am Strick, was das Tier glücklicherweise nur mit einem überraschten Blick ahndete, und ließ sich dann von Shar Lih zum Stall führen. Dort übernahm Irene das kluge Pferd und band es zum Putzen an. Überrascht von dem Mut ihres Lebensgefährten drückte sie ihm einen Plastikstriegel in die Hand, um weiterführende Schritte in seiner Erziehung einzuleiten. Ermutigt durch einige Zuschauer benutzte er den Striegel wie einen Hobel auf den Seiten von Shar Lih, der die rauhe Art des Putzens durch wohliges Langstrecken seines Halses mit "gut" benotete. Nun, Philipp war stolz auf sich. Das Pferd trat nicht, biß nicht, spuckte nicht. Solange man sich weder dem Kopf noch dem Hinterteil näherte. Irene wollte einen Sattel für Shar Lih ausprobieren und begab sich mit ihm auf den Reitplatz. Angefeuert von Philipp und einem halben Dutzend brüllender Kinder galoppierte sie über den Platz. Der Sattel saß gut, mehr wollte sie gar nicht wissen, und so bremste sie Shar Lih in den Schritt. Aber ihr Lebensgefährte hatte noch nicht genug gesehen. Da sie sich weigerte, daß Pferd weiter um den Platz zu jagen, bestand er darauf, ein Hindernis aufzubauen. Nun gut, ein Cavaletti könnte man mal übertraben, stimmte Irene etwas widerwillig zu. Voller Begeisterung mühte Philipp sich mit dem Heranholen von Ständern und Stangen ab. Sein hüfthohes Hindernis wurde von Irene entsetzt abgelehnt - Stange erst mal auf den Boden! Dabei rollte die weiße Stange polternd gegen die Stützen, was Shar Lih seinerseits mit Entsetzen zu Kenntnis nahm. Da war nichts zu machen - über das Ding ging er nicht rüber. Nun, was man dem Menschen nicht zumuten kann, braucht das Pferd auch nicht zu tun, dachte sich Irene, und forderte ihren Lebensgefährten auf, dem Pferd einen Sprung über die Stange vorzumachen. So hüpfte Philipp, gefolgt von Shar Lih, über das Hindernis. Nach drei Proben wurde das Hindernis auf dreißig Zentimeter (!) erhöht, und wieder hüpfte Philipp, gefolgt von dem Pferd, über die Stange. Da Philipp weit mehr Talent für das Springen zeigte als Shar Lih, brach Irene das Training zur Enttäuschung ihres
Lebensgefährten bald ab.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann haben sie sich entweder getrennt oder aber zwei Pferde, denn inzwischen häuften sich die Anzeichen dafür, daß Philipp sein Kindheitstrauma überwinden könnte. Und somit schwebte die Vorstellung, daß ihr Hundert-Kilo-Lebensgefährte ihr zierliches Pferdchen in immer näher rückender Zukunft besteigen könnte, wie eine dunkle Wolke über Irenes Glück.