Heike Wünsch |
Ein Pferd mit Klasse, Rasse, Temperament. Anhänglich, sanftmütig und sensibel. Ein Vollblut. So gedacht und schon gekauft: mein kleiner Araber. Aber, ach, wer hätte all der Vorurteile gedacht, die uns schon von erster Stund' an erwarteten.
Dabei begann alles so einfach: mein kleines Vollblut verließ lebend den Hänger, als es bei mir ankam. Flugs wurde das erst vor drei Wochen von einer Geschlechtsumwandlung heimgesuchte, vierjährige Vollblut in sein neues Nachtquartier überführt. Das Vollblut begrüßte seinen warmblütigen Nachbarn mit kräftigen Tritten gegen die Boxenwände, und so begann das Trauerspiel: "Typisch Vollblut, das gewöhnst Du ihm nie ab!" informierte mich der Stallbesitzer wissend über mein neues Pferdchen. Ein schüchterner Hinweis meinerseits auf noch nicht vollständig abgelegte Hengstmanieren wurde geflissentlich überhört. "Typisch Vollblut! Die sind alle malle im Hirn!".
Mein Vollblut entwickelte eine Ausschlagtechnik zu seiner Spezialität, die seinen Ruf nachhaltig schädigte. So trat sein warmblütiger Weidekumpel brav nach hinten aus und zierte die Vorderbrust meines Vollbluts gleichmäßig rechts und links mit sauberen Hufabdrücken, während mein Vollblut, hinterlistig und verschlagen, kurze, kräftige Tritte mit den Vorderbeinen austeilte. Diese landeten von Zeit zu Zeit in Weidezäunen holziger oder stromhaltiger Natur, welche dann dazu neigten, entzwei zu gehen. Der Stallbesitzer sah das mit Zorn in den Augen und stellte empört fest: "Typisch Vollblut! Der ist ja malle im Hirn!"
Inzwischen war mein malles Vollblut so weit zu kontrollieren, daß wir einen Ausritt mit einem warmblütigen Kumpel nebst Reiter wagen konnten. Der Weg sollte uns über eine Autobahnbrücke in den großen Wald führen. Ja, ja, die Autobahnbrücke. Der warmblütige Kumpel regte sich schon bei Annäherung auf fünfhundert Meter zu der Brücke so dermaßen auf, daß wir den Versuch einer Überquerung vorzeitig abbrechen mußten. Wir ritten trotzdem noch an anderer Stelle über ein Stoppelfeld bis an die Autobahn heran, wo mein Vollblut die vorbeirasenden LKWs vorsichtig, aber interessiert besichtigte. Lange Zeit blieb ihm dazu aber nicht, da das Warmblut kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Also machten wir uns auf den Heimweg und trabten gemütlich an einem Weizenfeld entlang. Fünfzig Meter vor uns wuchs ein großer Büschel gelb-weiß blühender Kamille am Feldrand. Mein Vollblut stockte im Takt, zuckelte, und drängte seinen warmblütigen Kumpel ab, um den Blütenbüschel mit einem großen Bogen zu umgehen. "Typisch Vollblut!" brüllte der Reiter des Warmbluts mit eingebauter Autobahnphobie, "das gewöhnst Du ihm nie ab, die sind eben malle im Hirn!"
Ein anderes Mal, auf dem Weg von der Weide zum Stall, wurden wir (mein Vollblut und sein warmblütiger Kumpel nebst jeweiligem Besitzer) von einem (ach, wie schrecklich!) Traktor überholt. Mein malles Vollblut blieb stocksteif mit aufgerissenen Nüstern und Augen stehen, während das Warmblut panikerfüllt in besitzerhinterherschleifenderweise 'gen Stall galoppierte. Nachdem ich meine Ex-Begleitung am Stall eingeholt hatte, beschloß ich, mein malles und sehr matschiges Vollblut abzusaugen. Den Schlauch des Staubsaugers fand es ziemlich langweilig, aber das Dröhnen des Motors absolut inakzeptabel. Als es, nach Abschalten des Staubsaugers, wieder auf allen vier Beinen stand, stellte die Warmblutanbindestrickverlängerung (der Schleppanker) wissend fest: "Das ist typisch Vollblut. Die sind halt malle im Hirn."
Mein malles Vollblut hatte eine schlechte Zeit, im Gelände wurden Trab von Zeit zu Zeit mit Trabrennen und Galopp mit wilder Raserei verwechselt ("Das ist typisch Vollblut!" wurde mir Unwissenden übrigens erklärt). Das stellte noch keine Gefahr dar, da ich mein Vollblut mit der Wassertrense zurückhalten konnte, war aber doch zunehmend unangenehm für Reiter und Vollblut. Da fast alle Warmblutreiter in meinem Stall ein Pellham oder Kimblewick zum Ausreiten benutzten, um ihre pullenden Bluttemperaturmischlinge besser im Zaum zu halten, dachte ich mir, daß dies auch meinem Vollblut und mir die Ausritte erleichtern könnte. So beschloß ich, einen Versuch mit einem Kimblewick zu machen. Zufällig hatte ein Stallkollege ein geeignetes, gut passendes Gebiß da, mit einer glatten Gebißstange aus Nathe und verschiedenen Möglichkeiten der Zügeleinstellung. Der Zügel wurde natürlich in der sanftesten Einstellung eingeschnallt, der Kinnriemen (keine Kette) fachgerecht angelegt. Der Sperriemen vom Reithalfter wurde entfernt. Für den ersten Ausritt mit neuem Gebiß nahm ich mir einen berittenen Warmblüter als Bremsklotz mit, damit mein Vollblut ohne viel Zügelgezerre das neue Gebiß und seine vermutlich schärfere Wirkung kennenlernen konnte. Das klappte eigentlich ganz gut, ich bemühte mich, die Tips des erfahrenen Warmblutreiters zu beherzigen und die Zügeleinwirkung vorsichtig zu dosieren. Nun rannte mein Vollblut ja nicht immer weg, obwohl - beim ersten Trab war es doch ungewöhnlich heftig, und eine empfindlichere Reaktion auf meine Zügelhilfen konnte ich nicht so recht bemerken. Ich nahm an, mein Vollblut kapierte einfach noch nicht den Sinn und Zweck einer leichten Parade mit dem Kimblewick. Oder so. Zumindest: schlimmer als mit Wassertrense konnte es ja wohl nicht pullen. Bei einem Stoppelfeld fragte mein warmblutberittener Begleiter, ob wir es wohl schaffen würden, hier einen leichten Galopp hinzulegen. Natürlich, eine unserer leichtesten Übungen, je nach Laune meines Vollbluts ein gemütlicher Galopp oder ein Muskeltraining meiner Arme und Stimmbänder, aber durchaus möglich. Ein leichter Galopp meines Vollbluts, daß hieß schon ein kräftiger Galopp des folgenden Warmbluts. Als das Gerumpel hinter mir doch recht rasch aufeinanderfolgende Erbebungen des Bodens fabrizierte, nahm ich die Zügel an, um das Warmblut nicht ungewollt abzuhängen. Nichts. Ich zog kräftiger. Nichts. Doch, wohl was: mein Vollblut gab Gas. Mehr ziehen. Mehr Gas. Ruckartig ziehen. Noch mehr Gas. "Was ist den das für ein Sch... Gebiß" rief ich erstaunt nach vorne und nach hinten "Halt ihn zurück, meine Bremse funktioniert nicht!"
Im folgenden hatte ich Zeit, alle Lehrbuchanweisungen für ein durchgehendes Pferd zu erproben. Durchgehendes Pferd, kein Vollblut, wohlgemerkt. Also: fest in den Sattel zurücksetzen, Zügel im Takt des Pferdes annehmen und nachlassen. Kleiner Scherz, wa? Wie soll das funktionieren, wenn das Vollblut einen Rhythmus wie ein alter schwarz-weiß-Kinofilm mit Flimmern hat? Also: Pferd in immer kleiner werdenden Bögen im Kreis lenken. Ja, schön wär's gewesen, sah ich doch ein fast erntereifes Rübenfeld auf uns zukommen, bei dem die Knollen unsichtbar, aber mit hundertprozentiger Sicherheit zehn bis zwanzig Zentimeter aus dem Boden ragen. Und vorher noch einen asphaltierten Feldweg. Zügel rechts ziehen. Nichts. Zügel links ziehen. Nichts. Nichts, nichts, nichts. Nun, was auch immer im Kopf meines Vollbluts vorging, kurz vor dem Rübenfeld schwenkte es mit unverminderter Geschwindigkeit nach links ab und benutzte den asphaltierten Feldweg als Rennbahn. Irgendwann - auch dem mallesten Vollblut geht mal die Puste aus - brachte ich es zum stehen. War ein tolles Gebiß, die schöne gummiartige Stange, die man so bequem und rutschfest zwischen die Backenzähne schieben konnte und dann kräftig draufbeißen. Da macht kein Reiter mehr etwas. Mein malles Vollblut fand das spitze und probierte das zehn Minuten später noch mal, war ja nun gut in Übung. Wir sorgten unterwegs für einen günstige Hufkorrektur (der Schmied könnte den Huf nicht schöner und glatter raspeln), rollten eine Reitergruppe auf und zerstörten einige Quadratmeter Weizenfeld. Zum Schluß waren wir uns einig: nie wieder Kimblewick. Da meine warmblutberittene Begleitung weit hinter uns verweilte, führte ich (zu feige zum Reiten, wa!?) mein Vollblut den selben Weg, den wir gekommen waren, zurück. Als wir die inzwischen wieder gut sortierte Reitergruppe passierten, entschuldigte ich mich wortreich und setzte noch hinzu: "Typisch Vollblut, bißchen malle im Hirn!"
PS: "malle": Slang, vielleicht aus dem Kölner Bereich oder seinen vorgelagerten Bauernslums (= alles, was ein Bergheimer Nummernschild am Auto oder Pferd trägt); bedeutet "verrückt, unkontrollierbar irre", eben malle; auch in Verbindung mit Birne: "Du bist ja malle in der Birne" (= "ein bißchen weich im Kopf" oder, politisch, "Du denkst ja so wie der amtierende Bundeskanzler.")
Heike Wünsch